Alice im NeuLand

ein dystopisches Märchen aus einer zurückliegenden Welt

Philipp W. Wilhelm
7 min readJan 19, 2021

Kapitel 1: Willkommen im NeuLand

Alfons langweilt sich bei seinem Job als Kassenkraft in einem Programmkino, twittert seinen aktuellen Befindlichkeitszustand (“Paaaarty!!! NOT! :-(” ), wirft auf der Toilette ein paar blaue und rote Pillen ein. Plötzlich klopft ein Kaninchen an die Innenwand der Popcornmaschine und kreischt „Zuckerwatte! Wir brauchen mehr Zuckerwatte!“
Verwirrt öffnet Alfons die kleine karamellisierte Pforte und schlüpft in das Popp-Paradies.
Das Fell des Kaninchens ist verklebt und mit Maiskörnern übersät. „Zuckerwatte! Wir brauchen mehr Zuckerwatte“, brüllt es ohne Unterlass. „Sei doch still — Du weckst die Kinobesucher auf!“ — „Wir brauchen viel mehr Zuckerwatte, eine Hüpfburg will ich bauen!“, grölt das Hasentier und beisst sich einen Zahn auf einem Maiskorn aus. „Aua.“ Es läuft Amok und schaufelt das gepoppte Korn aus der Maschine. Dann verschwindet es in ein Land over the Rainbow. Alfons folgt ihm.

Plötzlich befindet er sich in seinem eigenen Twitter-Account und fragt sich, warum der FailWhale nur 10 kg wiegt.

Der Login-Status teilt ihm mit, dass er von nun an “Alice” genannt werden wird, heisst sie/ihn im NeuLand willkommen und gibt ihm/ihr den guten Rat mit auf den Weg, unbedingt auch mal bei Foursquare einzuchecken.
Ihre/Seine Eltern warten zuhause schon lange nicht mehr mit dem Abendessen auf ihn/sie.

(Memo: es gab Thunfisch vom Thuner See)

Eins zu Null für den Tunnelblick.

Kapitel 2: Alice isst einen Keks.

Frisch und munter im NeuLand angekommen, findet Alice einen OREO-Keks mit der Aufschrift: “Hasch mich, ich bin der Frühling”.
Es endet in einer Sauerei.

Die Nachwirkung: nichts wird sein, wie es einmal war.

Kapitel 3: Alice auf Touren

Alice hat keinerlei Ortskenntnisse und hält einen Wagen an.
Die Grinsekatze ist so freundlich, sie mitzunehmen.
Alice fragt, wo sie sich denn befinde, und erhält die Antwort:
“In diesem NeuLand natürlich”.
Alice muss spontan kotzen.

Kapitel 4: Twitterdei und Twitterdumm

Alice trifft auf die Blumenkinder Twitterdei und Twitterdumm und fragt sich, warum es heut morgen Schinkennudeln zum Frühstück gegeben hat.

Kapitel 5: Ding Dong — the Bitch is Dead

Alice klaut bei Deichmann ein Paar billige Silbersandaletten und wird vom Sicherheitsdienst am Ausgang abgefangen.

Als sie im Büro der Filialleiterin sitzt, Rede und Antwort stehen muss (wobei sie ja nicht steht, sondern sitzt, aber das hatten wir ja schon…), fällt plötzlich ein Schuhregal auf die erboste Filialhexe und erschlägt sie.

Alice flüchtet in ihren neu gewonnenen Silbersandaletten und merkt, dass entwendete — recht billig verarbeitete -Schuhe definitiv nicht dazu geeignet sind, um auf einem Ball mit dem Prinzen zu tanzen.

Kapitel 6: Alice erlebt den Blues

Der halbautomatische Einbeinige, den Alice im Restaurant zur Goldenen Möve kennenlernt, erzählt ihr von einem geheimen Club: “The Anti Social Club”.

Neugierig sucht Alice diese hippe Location auf, legt sich einen Gratiszugang und dröhnt sich 12 Stunden am Stück mit “Likes” zu.
Die Sucht hat sie fest im Griff. Die krampfhafte Suche nach witzigen Posts und der Kick der “Roten Eins” führen schnell dazu, dass Alice den “Blue”-Status erreicht.

Resultat: Übermüdung durch ständiges Online-Sein.
Therapie dringend empfohlen.

Kapitel 7: Alice in Love

Aus purer Angst vor der Vereinsamung legt sich Alice ein Profil bei PartnerScout24 an.
Kurze Zeit später meldet sich ein Benutzer mit dem Pseudonym “Freddy Quinn” und lädt sie auf einen Kaffee ein.
Es ist Liebe auf den ersten Schnitt.
Das junge Glück hält nicht lange an, da “Freddy Quinn” dazu neigt, vorbeilaufenden Kindern mit Luftballons genau diese kaputt zu machen.
Alice trennt sich nach 2 Stunden und 28 Minuten und einer Tasse Blasen- und Nierentee von ihm.

Kapitel 8: Alice im Streichelzoo

Nach einer kurzen Auszeit im Beauty Salon „Kink My Butt“ mit erfolgreichem — Maniküre Pediküre extra! — Roundabout-Neustyling trifft Alice auf die Rote Muschi und verliert beinahe die rechte Hand, ihre Jungfräulichkeit und den Verstand.

Kapitel 9: Alice nimmt einen Nebenjob an

Um ihre Onlinesucht und den immer ausschweifenderen Lebensstil finanzieren zu können, nimmt Alice in der Stadt FarmVille einen Nebenjob an.
Sie bekommt von ihrer Chefin den Nickname “Surge-Melotte” und bietet auf Netzwerkpartys zockenden Nerds ihre fragwürdigen Dienste an.

Sie wird in iTunes-Gutscheinen entlohnt.

Kapitel 10: Teeparty

Auf eine Netzwerkparty erhält Alice von Onkel Gustav eine Einladung zu einer delikaten Party.

Der lustige Onkel und sein kuscheliger Stallhase Jussuf setzen Alice in einen gewaltigen Club Mate Rausch und zwingen sie, einen Google+ Account anzulegen.
Gleichzeitig färben sie ihr die Haare und stecken sie in ein Kleid, dass sie aufgrund fehlender Oberweite gar nicht auszufüllen vermag.
Zum Dessert gibt es frittierte Maus im Schlafrock.

Kapitel 11: Alice versinkt

Seit über einer Woche feiert Alice nun schon mit dem lustigen Onkel und dessen Kuh, äh, Hahn, ach was… Hasen… eine exzessive Club Mate Party.
Die Miezekatze von nebenan erbricht sich nach einem Schluck Afri Cola, löst sich auf und wird als Instagram-Foto wiedergeboren.

Sie versinkt in einem postmodernen Sumpf der Abhängigkeit. Süchtig nach Online-Profilen ist sie nun bei tumblr, Wordpress, ADN, Posterous, Foursquare, instagram etc. vertreten.
Im Wahn bringt sie ihre Passwörter durcheinander und legt sich bei XING ein Profil an. Ein letzter Aufschrei, zurück zur Seriosität?
Der Toaster ruft fröhlich: “Iss mich” und spuckt grüne Gummibärchen aus.

Kapitel 12: Alice auf Umwegen

Nach neun Tagen torkelt Alice angetrunken zurück ins Büro. Auf dem Weg begegnet ihr wieder die Grinsekatze. Alice fragt nach dem Weg zur nächsten Ubahnstation.
Die Antwort lautet: “Alle Wege führen durch die Unterführung.”
Whatever.

Kapitel 13: Alice verliert den Überblick

Der exzessive Smartphone-Gebrauch hat seine Spuren auf Alice’ Gesicht hinterlassen.
Pacman, Pacman, jeder muss versteckt sein.
Google Maps ahoi! Tick Tack Toe — wo ist nur der Flow?

*YOLO BITCHES*

Sie lässt sich Club Mate und Eiskonfekt in die Wangen spritzen.

Kapitel 14: Alice schmeisst alles hin

Alice hat keine Lust mehr auf ihren Job als Social Media Hure und beschließt, Prinzessin zu werden.

Sie macht sich auf die Suche nach einem geeigneten Prinzen und legt sich ein Profil bei Gayromeo an.

Kapitel 15: Alice ist durch — den Spiegel

Alice erwacht neben einem ihr wildfremden TweetBot, der ihr lüsternd ins Ohr röchelt: “Du hast mich heut nacht echt gut getwittert, dass mir mein MySpace bis morgen brennen wird” und schlägt ihr mit einem Buch ins Gesicht.
Benommen steht Alice auf, geht zum Spiegel und weiß, was zu tun ist.
Blöd nur, dass das neue Betriebsystem ihres Smartphones beim automatischen Update gestern Nacht die Flugmodusfunktion verloren hat.
Sie versucht krampfhaft, über das Touchdisplay ihre Social Media Accounts zu löschen, doch reagiert das Smartphone nicht auf ihre Finger.
Anscheinend hat jemand ihre Touch-ID geknackt.

In ihr zerbricht etwas.

Kapitel 16: Alice baut sich ein Denkmal

Im Größenwahn gibt Alice ein ihr nachempfundenes Denkmal in Auftrag.
Sie schickt ein Instagram-Foto von sich zum günstigsten, über Facebook Ads gefundenen Steinmetz und ist mit dem Ergebnis nicht wirklich zufrieden.

Kapitel 17: Alice gibt sich die Jacobs Krönung

Alice wird “Mayor” vom NeuLand und krönt sich selbst, gibt sich den Namen Jacob und kommt vom eigenen Weg ab.
Das gefällt der amtierenden Königin vom Zuckerberg so gar nicht und droht, sämtliche Accounts zu sperren.
Sofort resigniert Alice.

Kapitel 18: Alice telefoniert nach Hause

Alice findet eine alte Telekom-Telefonzelle, wischt die Schlonze vom Hörer und ruft ihre Eltern an.
Dummerweise verwählt sie sich und landet bei der Sittenpolizei, die ihr mitteilen, dass Angela Merkel definitiv nicht zur Tea Party eingeladen wurde und deshalb stinksauer ist.

Erschrocken legt Alice auf und schwört, nie wieder ein Analog-Telefon zu benutzen.

Kapitel 19: Alice hinterlässt Spuren

Erschöpft von ihrem Aufenthalt im NeuLand beschließt Alice, Spuren ihrer Existenz zu hinterlassen.
Sollte sie nicht wieder ins Offlineland zurückfinden und hier, an diesem schnelllebigen Ort verenden, so möchte sie jedoch der Welt mitteilen, dass es sie gab.
Sie checkt bei Foursquare ein.

Kapitel 20: Alice auf dem Weg ins Offlineland

Verwirrt, betrogen und zerstört hat Alice das NeuLand satt.
Sie macht sich auf den Nachhauseweg. Per Anhalter.
In der Hoffnung, offline endlich wieder auf den rechten Pfad zu kommen, kauft sie sich ein gebrauchtes Nokia 3310.
Das Smartphone wird sie wegwerfen. Ehrlich! Großes Kaninchen-Ehrenwort…
(seufz)

Erschöpft von ihrer Reise lässt sich Alice nieder und isst einen kleinen Laubfrosch.
Als sie die Augen öffnet, traut sie ihrem Blick nicht:

Augen auf: Die Welt ist….
Ja, was ist sie denn? Womöglich längst am Ende?
Die gelbe Ziegelsteinstraße liegt wie ein Mahnmal vor ihr.
Lohnt sich der Weg denn überhaupt noch?

“Viel Glück zum Nichtgeburtstag, Du Bitch!” dröhnt es aus ihr wohlbekannten Kehlen.

Shit. Der Onkel und sein Vieh.
Vor lauter Entsetzen flieht Alice über die gelbe Ziegelsteinbrücke, sie will nur noch zurück ins Offlineland!
Gelbe Ziegelsteinstraße — bist Du der Weg ins Glück? Oder wartet auf sie doch nur ein Schluss am Wörthersee? Ein weisses Rössl in Oberammergau, oder der Supergau in Fukushima?

Kapitel 21: Daheim ist, wo er hart ist

Nach Jahren der Wanderschaft, Tätigkeit als Wanderhure in Sozialen Netzwerken, etlichen Exzessen bei der Tea Party, skurrilen und extrem abwegigen Konversationen erkennt Alice, dass sie nie von Zuhause weg war.

Onkel Gustav bringt ihr liebevoll gebrühten Kaffee ans Bett und flüstert ihr zärtliche Worte ins geplatzte Trommelfell.

Sie schaltet ihr iPhone auf Flugmodus, atmet tief durch, folgt der gelben Ziegelsteinstraße und bekennt: “There’s no MySpace like Home”. Sie drückt auf “Gefällt mir”.
(Und postet schnell noch ihre Erkenntnis auf Facebook, Twitter und Co., macht ein letztes Instagram-Bild, um auch diesen Schritt zu dokumentieren)
Die gar absurd-wunderliche Reise durchs NeuLand zurück ins Offlineland hat deutliche Spuren in ihrer Persönlichkeit hinterlassen.
Sie ging als ungelernte Kinokassenkraft und kommt (hoffentlich) zurück als — innerlich — strahlende Heldin mit einem gut funktionierendem sozialen Umfeld.
Doch sie weiß: man kann dem NeuLand nicht entfliehen.
Es gibt kein Offline mehr.
Sie atmet tief durch und stapft los in ein Gutes Neues Jahr namens 2010.

Who the Fuck is Alfons?

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Geschichtenerzähler, Alltagspoet, Blickwinkelverschieber • www.linktr.ee/kyndzkopf

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