Philipp W. Wilhelm
2 min readNov 1, 2021

Opas Scheune.

An einem Acker am Rande des Dorfes gibt es zwei alte Scheunen. Eine davon gehört Opa Ludwig und mir ganz allein. Niemand sonst hat darin Platz. Wenn sich die Sonnenstrahlen durch die Ritzen der Bretterwände stehlen, tanzen im feinen Staub, der aus Opas Hobelmaschine fliegt, winzige Elfen in Seidenröckchen im Licht. Der Geruch des frischen Holzes, die schwieligen Hände, welche die Flöte formen und unsere Gespräche gehören zu den Geheimnissen, die wir mit niemandem teilen. Opa, den schwarzen Hut in den Nacken geschoben, beugt sich über ein Stück Weidenholz und schnitzt die Kerbe für den richtigen Ton. Dann klopft er die Rinde mit dem Messergriff weich, um sie locker abziehen zu können.

  • Jetzt lassen wir die Elfen tanzen, Hansi.

Ich bin aufgeregt. Die Elfen gehören zu meinen liebsten Freunden.

  • Was soll es heute sein? Polka, Walzer oder ganz was Feines? Was tragen sie? Ein Ballettröckchen? Ja, dann nehmen wir Tschaikowsky!

Ich erinnere mich an ein Gespräch, das Opa mit meiner Mutter führte.

  • Schon wieder Bauchschmerzen, Johannes? Wieder nicht in den Kindergarten? Zieh dich an. Wir gehen zum Doktor.
  • Wir brauchen keinen Doktor, Petra. Er bleibt noch ein Weilchen liegen, dann bringe ich ihn später. Fahr du nur zur Arbeit.

Wir radeln zur Scheune. Opa zieht den kleinen Schlüssel aus der Hosentasche und öffnet das verrostete Vorhängeschloss. Im kleinen Wäldchen hinter der Hütte suchen wir Rinde.

  • Nicht vom Baum. Wir sammeln nur, was am Boden liegt.

Er zieht sein Taschenmesser aus der Hosentasche, in der er auch den Schlüssel für die Scheune aufbewahrt und die alle Schätze birgt, um für das Leben gerüstet zu sein. Bindfaden, Haushaltsgummi, Taschentuch, Bleistiftstummel, Bierflaschenöffner und Heftpflaster.

Wir müssen nicht lange suchen. Die Natur um unsere Scheune bietet reichlich Material. Wir entscheiden uns für ein Birkenschiff. Opa rundet den Bug und bohrt ein Loch für den Masten. Ich schneide ein Stück Papier aus Bussi Bär-Heft und setze die Segel. Im Bach hinter der Scheune lassen wir es zu Wasser.

  • Wie soll unser Schiff heißen?, fragt mich Opa.
  • Regenbogenboot., rufe ich begeistert.
  • Na dann, Hansi, bist du bereit?

Opa lässt das Schiffchen los.

Meine Bauchschmerzen segeln an Bord des Regenbogenbootes davon und ich winke ihnen freudig hinterher.

Philipp W. Wilhelm
Philipp W. Wilhelm

Written by Philipp W. Wilhelm

Geschichtenerzähler, Alltagspoet, Blickwinkelverschieber • www.linktr.ee/kyndzkopf

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